Mittwoch, 22. November 2023

Philrunde 1.12. 2023 

Das Erbe des Zauberlehrlings

Aus: Ausgabe vom 14.11.2023, Seite 15 / Natur & Wissenschaft
Mensch und Tier 
 
Der Natur entfremdet, krank und schlecht beleumundet. Die Stadttaube ist ein wild gewordener Nachkomme menschlicher Kultivierung
Von Hagen Bonn
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Standorttreu und mit gutem Gedächtnis: Die Taube

Ohne die Taube, weiß die Bibel, gäbe es keine Hoffnung. Der Text ist ungefähr 3.000 Jahre alt und berichtet von Noah, der über die geflutete Erde segelt. Als das Wasser abgeflossen war, ließ er eine Taube fliegen: »Gegen Abend kam die Taube zu ihm zurück, und siehe da: In ihrem Schnabel hatte sie einen frischen Olivenzweig. Jetzt wusste Noah, dass nur noch wenig Wasser auf der Erde stand.« (Genesis 8,11) Homer (ca. 800 v. u. Z.) sang über eine Frau, die sich männlicher Zudringlichkeit erwehren musste: »Und weinend floh unter ihr weg die Göttin, wie eine Taube, die unter dem Habicht hineinfliegt in einen hohlen Felsen, in einen Spalt, und nicht war ihr bestimmt, ergriffen zu werden.« (Ilias 21,493–495) Auch das frühe Christentum benutzte die Symbolkraft der Taube: »Als Jesus getauft war, stieg er sogleich aus dem Wasser herauf. Und siehe, da öffnete sich der Himmel, und er sah den Geist Gottes wie eine Taube auf sich herabkommen.« (Matthäus 3,13–16)

Die bürgerliche Ordnung nun endlich stand von Anbeginn in Abhängigkeit von kompakten Nachrichten über das Marktgeschehen. Das war hochgradig unübersichtlich; Bescheid zu wissen, ein Wettbewerbsvorteil also. Im 19. Jahrhundert konnte es Tage dauern, ehe aktuelle Informationen bei den Börsen von London, Paris oder Berlin ankamen. Das Nachrichtennetz hatte eher die Form eines Archipels, erste Telegraphenlinien breiteten sich zögerlich aus.

Ein Pfiffikus in Aachen hatte die irre Idee, einen Taubenkurierdienst einzurichten. Mit anfänglich 45 Vögeln überbrückte er Lücken im Telegraphennetz. Zwischen Paris und Berlin etwa. Natürlich mussten die Nachrichten kurz sein und die Zettel leicht. Telegrammstil bot sich an. Als Bonus verbürgte er sich persönlich für die Richtigkeit »seiner« Nachrichten. Und wie hieß der Mann? Reuter. Klingelt da was?

Die Ahnen unserer Stadttauben kommen aus dem Mittelmeerraum, dort wurden lebende Felsentauben in Nutztiere umgezüchtet. Es ging nicht um Briefe, sondern um Eier und Fleisch. Später dann neben Briefen auch um Wettflüge und Hochzeiten. Die heutigen Stadttauben sind sämtlich Nachfahren der Zucht- und Brieftauben. Es handelt sich also um Tiere, deren Vorfahren vom Menschen genutzt und dann ausgesetzt wurden. Allein in Deutschland werden jährlich Tausende Tauben (aus-)genutzt beziehungsweise ausgesetzt. Sie sterben entweder sofort oder schaffen es in die »rettende« Stadt.

Ihre Lebensweise ist meist geprägt von Hunger, Krankheit und den Folgen ihrer Naturentfremdung. Die armen Wesen müssten eigentlich Körner und Samen fressen, die sie in der Stadt aber kaum finden. Der flüssige Taubenkot, auch Hungerkot genannt, ist ein deutliches Zeichen dieser Fehlernäherung aus Pausenbrot, Pizzaresten oder Dönerfallgut. Dazu gesellt sich ein skandalöser Umstand: Den Tieren wurde ein »permanenter Brutzwang« angezüchtet. Deswegen brüten sie mehrfach im Jahr, im Gegensatz zu ihren Naturkollegen. Und freilich, das führt zur Überpopulation, und die wiederum zu Hunger und Krankheit. Aber wie reagieren wir, also die Verursacher dieses Elends, darauf? Wie immer in solchen Lagen arbeitet man am Symptom, nicht an der Ursache. Abwehrnetze und Metallstacheln schmücken Bahnhöfe und Mauerwerke. Eine kriegerische Art der Abschiebung.

Stadttauben sind hochbegabte Tiere. Sie verfügen über ein gutes Gedächtnis, können sich 100 verschiedene Fotos merken und sogar Menschen wiedererkennen. Selbst bei wechselnder Kleidung erkennen Tauben verschiedene Menschen wieder. Auch gut zu wissen: Stadttauben haben einen Aktionsradius von nur wenigen hundert Metern. Sie sind standorttreu wie kaum ein anderes Tier. Eine Taube, die sich auf dem Schulhof niedergelassen hat, wird in den Sommerferien also nicht auf den Bahnhof umziehen, um ihre Versorgungslage zu verbessern. Nein, sie verhungert.

Ich hoffe, dass wir nun ein wenig anders auf Tauben schauen. Verständnisvoller. Solidarischer! Und sagte nicht einst der große Lenin: »Was tun?« Da Stadttauben das von uns angezüchtete Verhalten nicht ändern können, sollten wir endlich Wiedergutmachung leisten und ihnen alternative und vor allem sichere Lebensräume anbieten. Gute Erfahrungen macht man derzeit mit »betreuten Taubenschlägen«. So zu sehen am Brandenburger S-Bahnhof Bernau. Teile der Stadttauben des Bahnhofsareals bekommen dort anständiges Futter, sauberes Wasser und artgerechte Brutplätze. Dem Brutzwang tritt man entgegen, weil man die Eier mit Gipseiern austauscht, was die Population sinnvoll verkleinert. Auch der Taubenkot hat so einen Platz gefunden und muss nicht mehr aus unserem Haar oder von der Schulter gewischt werden. Allerdings sieht man auch in Bernau überall Sperrnetze und Metallstachel. Und zwischen den Stacheln eingezwängt leider auch Tauben, die keinen Platz im Taubenschlag gefunden haben.

Am Ende bleibt für uns die Hoffnung, so wie Noah sie einst suchte und Picasso sie zum Friedenssymbol erhob. Die Hoffnung auf Frieden für uns als Spezies und die Hoffnung für all die Tiere, die wir als Zauberlehrling schufen. Die Taube als geknechtetes Wesen, als entfremdetes Subjekt, zeigt auf, was wir als Mensch der Natur antun, geschichtlich antun mussten, obgleich dieselbe Natur in uns steckt, uns zum wesensartigen Widerspruch macht. Und damit auffordert, diesen Widerspruch zu lösen. Wir sind also verdammt, eine neue Einheit mit der Natur zu begründen, oder wir werden in Sperrnetzen und Metallstacheln verenden.