Dienstag, 24. November 2020

Philosophenrunde Melle, Nov. 2020

Essay mit anschließendem Kommentar:

Corona – Entschleunigung – Besinnung – Neuausrichtung 

                                                                         Christian Brehmer

Das Virus hat unsere Gesellschaft voll im Griff.  Vertraute Lebensabläufe werden durchbrochen: HomeOffice zum Beispiel verlagert die Arbeit vom Büro an den Computer daheim; Kurzarbeit führt zu ungewollter Freizeit und Betroffene verzeichnen genauso wie Kleinunternehmer schmerzhafte Einkommenseinbußen;  AHA-Maßnahmen verändern unser soziales Gefüge; eine ständige Umstellung der Regulierungen bewirkt Verunsicherung in der Bevölkerung. Noch ist keine Entwarnung in Sicht.

Seit den offiziellen Bleib-zu-Hause Empfehlungen sind immer mehr Menschen daheim und oft allein. Stress, besonders für Familien in kleinen Wohnungen bleibt nicht aus. Für viele Ältere droht die Kontaktarmut genauso belastend zu werden wie die Altersarmut. Virtuelle Freundschaften können auf Dauer keinen persönlichen Kontakt ersetzen. Genauso wenig wie Roboter- Begleiter, mit denen sich in Japan alte Menschen trösten sollen. Das niederländische Gesundheitsministerium empfiehlt einsamen Singles zu sogenannten „Sexbuddys“, d.h. nur mit einem Partner  Sex zu haben, ohne mit ihm unbedingt in einer Beziehung leben zu müssen. Fragwürdiges Modell. Der Hamburger Zukunftsforscher Horst Opaschowski spricht von einer drohenden „Epidemie der Einsamkeit“.

Allenthalben ist eine Entschleunigung des Lebens festzustellen. Für die einen ist die neue Ruhe unerträglich, so aufgeputscht ist ihr Nervensystem. Und sie flüchten verstärkt in Spaß und Konsum. Aber auch der wird beschnitten durch Lockdown-Maßnahmen    für viele unerträglich. Manche gehen lautstark auf die Barrikaden.

Bei vielen dominieren Existenzängste. Für andere ist die Entschleunigung jedoch eine Gelegenheit zur Besinnung. Die Hektik ist abgeebbt, und jetzt ist auf einmal die Zeit da, um nachzudenken über den Sinn des ganzen Treibens, über „Gott und die Welt“ oder über die eigene Stellung und das Verhalten in Familie, Beruf und Gesellschaft. Manches wird bewusst, oft schmerzhaft, und es kommt dann mitunter zu segensreichen Korrekturen.  

Nachdenken kann aber auch zum Grübeln führen. Es rotiert und rotiert in der Birne. Man kommt zu keiner Lösung.  Was soll das alles!?  Ist doch sowieso sinnlos! Manch einer flüchtet dann in Alkohol oder Drogen, andere werden depressiv .

Alles im Leben hat nun mal seine zwei Seiten. Es kommt auf den Blickwinkel an. Hier sind wir frei: Verweilen wir wie gelähmt in der Krise, oder sehen wir die Krise als Chance, als Chance zu einer Neuausrichtung? Denn Krisen, persönlich oder kollektiv, tauchen meist dann auf, wenn unser Bild von der Realität mit der Realität an sich nicht übereinstimmt.                                      

Neujustierung beginnt mit Besinnung. Kein Grübeln, sondern ein Innehalten, ein Aussteigen aus dem Hamsterrad der Gedanken. Aber es ist gar nicht so einfach, das Hamsterrad anzuhalten. Wenn es uns gelingt,  seine Rotation zu verlangsamen oder gar zum Stillstand zu bringen, ist nicht nur eine wohltuende Entspannung festzustellen, sondern auch – frei von fluktuierenden Gedanken – eine innere Klarheit, die Abstand und Übersicht gewährt. Nicht nur das, sondern es stellt sich auch eine stille Akzeptanz der gegenwärtigen Situation ein,  eine  „Meta-Okayness“ , ohne die man immer das Gefühl hat, dass etwas nicht in Ordnung ist oder dass etwas fehlt.  Man/Frau  bleibt ein Mangelwesen und fühlt sich selbst unter Menschen einsam.

Hier liegt die Lösung, hier liegt das, wonach wir suchen. Doch es bedarf viel Geduld und der regelmäßigen Ausübung einer Entspannungstechnik. In einigen Schulen wird bereits  Achtsamkeitstraining angeboten. Generell ist ratsam, mit einer Körpererfahrung zu beginnen, etwa mit Yoga, Tai-Chi, Feldenkrais oder mit einem anderen körperorientierten Ansatz. Die Aufmerksamkeit wird auf den Körper verlagert –  weg von den vielen rotierenden Gedanken, um dann mit der eintretenden Beruhigung auch sie letztlich durch Meditation zum Abklingen zu bringen. Viel Praxis, viel Ausdauer braucht es – aber nichts ist schöner und lohnenswerter als das. Es kommt mehr Bewusstsein = Freude ins Leben. Bewusstseins-Intensivierung ist der eigentliche Sinn des Daseins, das ist die Botschaft von den Milliarden Jahren der Evolution.

Aus der inneren Klarheit kommt auch innere Erkenntnis und Neuausrichtung, kommt es gegebenenfalls zu einer Umorientierung im Leben. Befreit von ständig rotierenden Gedanken, erkennen wir das, worauf es ankommt im Leben und setzen neue Prioritäten.  Muss es zum Beispiel unbedingt ein neuer Wagen sein, oder soll ich mir besser ein E-Bike zulegen, um zur Arbeit zu kommen? Schaffe ich es, weniger Fleisch und Milchprodukte zu essen, um Tiere, Umwelt und meine Gesundheit zu schützen? Was ist mein Eigenanteil an den Problemen mit meinem/r Partner/in? Habe ich den Mut zur Aussprache? –  So hat jeder seine Baustellen und seine Potenziale, um über sich hinauszuwachsen. „It is a terrible thing to waste a crisis!“, sagt Paul Romer, Ökonom an der Stanford University, USA. Jetzt ist die Chance meine blasse Mittelmäßigkeit hinter mir zu lassen und zu der Führungskraft zu werden, die in mir angelegt ist.

Viele zögern noch, trotz Corona-Entschleunigung ihr Leben durch einen Weg nach innen zu ergänzen und zu bereichern.  Die ganzheitlichen wohltuenden Wirkungen  dieses Weges sind wissenschaftlich längst nachgewiesen.[i] In den  Medien ist jedoch von Spiritualität kaum die Rede, und das, obwohl jeder Vierte in Deutschland meditiert und zwei Drittel der Bevölkerung (!) nach dem Sinn des Lebens suchen laut einer repräsentativen Umfrage der GfK (Growth for Knowledge 2016). Etwa 4 Millionen Bundesbürger praktizieren Yoga. Offenbar wollen die Trendsetter hinter den Medien verhindern, dass Spiritualität Mainstream wird, denn bewusst lebende Menschen sind schwerer zu manipulieren. Sie wissen nicht, die Influencer, dass mehr Bewusstsein gleichzeitig auch mehr Vernunft und damit mehr  Ordnung und Bürgersinn bedeutet.                                       

Zur Ignoranz der Trendsetter kommt die Angst vor dem Neuen und Unbekannten, denn die Erweiterung des Bewusstseins kann  zu einem Hinterfragen von vertrauten Prinzipien oder  Privilegien führen, die  sich als  nicht länger tauglich oder fair erweisen. Das Vertraute hatte bislang eine Scheinsicherheit gewährt, und wehe,  wenn daran gerüttelt wird! Dann sträuben sich die Nackenhaare.

Schon Carl Friedrich von Weizsäcker hat 1976 von der „Struktur der angstvollen Selbstbeschützung des Ich“ aus Angst vor dem Wandel gesprochen:

Es ist also nicht so, dass ein besonders gescheiter Mensch kommen muss, um Manager- und Steuerungsaufgaben zu lösen, die komplex sind; aber daran liegt es nicht, sondern es liegt letzten Endes daran, dass unsere seelische Verfassung so ist, dass jeder von uns an irgendeiner Stelle und viele von uns an vielen Stellen das einzig Heilsame abweisen, weil jeder Angst hat, dass ihm etwas passieren würde, wenn er hier die Konzession machte, die letztlich die einzige ist, die ihn retten würde.[ii]

Die Konzession muss unser stolzes Ego machen, das immer alles besser weiß und nicht wahrhaben will, dass es noch eine es übersteigende, höhere Intelligenz gibt, die sich nur durch Stille erschließt. Genau das ist der Weg der Meditation, den von Weizsäcker an anderer Stelle bezeichnet als

die Bereitschaft, den Willen still werden zu lassen und das Licht zu sehen, das sich erst bei still gewordenem Willen zeigt. Sie ist eine Schule der Wahrnehmung, des Kommenlassens der Wirklichkeit.[iii]

Nichts braucht unsere Gesellschaft mehr als eine Annäherung an die Wirklichkeit; ein Weiter- so wie vor der Krise wäre eine evolutionäre Sackgasse.

Hennes hat seinen Hausschlüssel verloren. Er sucht verzweifelt im Garten. Nach einem Weilchen kommt sein Nachbar hinzu und hilft beim Suchen. Bald darauf fragt er: “Sag mal, Hennes, wo hast du eigentlich deinen Schlüssel verloren?“ – „Im Keller des Hauses.“ – „Und warum suchst du nicht dort?“ -  „Nein, da ist es mir zu dunkel, da habe ich Angst.“[iv]

 

 

Verfasser: Dr. Christian Brehmer, Bakumer Str. 31a, 49324 Melle,  brehmer.c@web.de,  Website:  www.bewusstsseins-evolution.de

Weiterleitung und Kommentare willkommen

Literatur:  Christian Brehmer:  Woher? Wohin? Orientierung im Leben. Die Evolution des Bewusstseins als Ausweg aus der Krise. Verlag Via Nova, 36100 Petersberg 2018 

ibd.: Vom Urknall zu Erleuchtung. Die Evolution des Bewusstseins als Ausweg aus der Krise. Verlag Via Nova, 36100 Petersberg 2008  

ibd.: Die Evolution des Bewusstseins und die Erforschung ihres zukünftigen Verlaufes im Rahmen eines erweiterten Wissenschaftsverständnis. Dissertation, Verlag Peter Lang,  Frankfurt/M. 1992    


[i]  www.meditation-wissenschaft.org

[ii] Von Weizsäcker, Carl Friedrich: Der Garten des Menschlichen. Hansa Verlag, München 1977, S. 544

[iii] Ibd.:  Wege in der Gefahr. Eine Studie über Wirtschaft, Gesellschaft und Kriegsverhütung, dtv, München 1987, S. 265

[iv] Frei nach Mullah Nasrudin, www.christophflamm.com

 

Corona – Entschleunigung – Besinnung – Neuausrichtung
                                           (Kommentar von Klaus Burghardt)
 

Einen schönen Artikel hat unser Chris da geschrieben. Mit manchen Aussagen gehe ich konform, mit anderen weniger. Ich möchte mich in meinem Kommentar hauptsächlich auf einen Aspekt konzentrieren, der mit folgenden von Chris' Formulierungen zu tun hat:
   „Bei vielen dominieren Existenzängste. Für andere ist die      Entschleunigung jedoch eine Gelegenheit zur Besinnung. (...) Aber es ist gar nicht so einfach, das Hamsterrad anzuhalten. (...) Doch es bedarf viel Geduld und der regelmäßigen Ausübung einer Entspannungstechnik. (...) Viel Praxis, viel Ausdauer braucht es (...)“
Mir scheint, dass so, wie in unserer Gesellschaft Einkommen, Vermögen und Zukunftsperspektiven ungleich verteilt sind, dies auch für die Möglichkeiten gilt, Chris' Anregung zu folgen und Corona als Chance zu sehen.

Wer in einem großen Haus mit Garten zu Heimarbeit verdonnert wurde und dessen Problem im Wesentlichen darin besteht, dass er unter dem fehlenden Kontakt zu seinen Kollegen leidet, der wird vermutlich weniger Schwierigkeiten damit haben, die erforderliche Geduld für den Weg nach innen aufzubringen als ein Ehepaar, von Arbeitslosigkeit und Hartz IV bedroht, dessen Kinder lärmend durch die eh viel zu enge und zu teure Wohnung toben, weil Schulen und Spielplätze wegen Corona geschlossen sind. Wo mehrere und dazu existenzielle Ängste und Schwierigkeiten zusammenkommen, da lässt sich das Rotieren in der Birne kaum abstellen - auch wenn es gerade in dem Fall besonders wichtig wäre ...

Die psychische Belastung durch Arbeitslosigkeit kann, wie ich aus eigener Erfahrung weiß, dazu führen, dass nur noch ein Gedanke zählt: Ich muss eine Arbeit finden! Das mag irrational sein und kontraproduktiv. Doch wer mir damals mit Spiritualität gekommen wäre, den hätte ich im besten Fall ausgelacht. 

   " Es kommt auf den Blickwinkel an. Hier sind wir frei: ...“     

Davon konnte bei mir keine Rede sein. Ich war nicht frei. Besagte „Freiheit“ war - was mich anging - fiktiv. Zumindest schien es mir so, und das läuft auf das Gleiche hinaus. Ich war in einer Krise. Diese kam allerdings nicht durch mein Bild von der Realität zustande. Ich sah die Realität sehr deutlich (OK, zeitweise vermutlich in zu dusteren Farben, was meine Krise zusätzlich verstärkte). Ich hatte auch nicht nur „das Gefühl [...], dass etwas nicht in Ordnung ist oder dass etwas fehlt“ - es war etwas nicht in Ordnung, und es fehlte tatsächlich etwas.                    

Glücklicherweise gelang es mir, die Realität zu ändern. Ich fand eine Arbeit. Und war viel entspannter, offener für andere Dinge, und nun hätte mir möglicherweise sogar jemand mit Meditation kommen können.

Ja, so ging es mir mit Anfang 30.                                                    

„Unter jungen Leuten sind rund 50% ratlos. Ein Drittel entdecken keinen tieferen Sinn. ...“ hieß es in der Vorschau zu unserem Treffen vom März 2019. Und: „Besonders negativ wird das Gefühl empfunden, sich überflüssig zu finden.

                                                                                

Wie mögen sich die Jugendlichen fühlen, die jetzt wegen Corona keine Aussicht auf eine Lehrstelle haben? In Gelsenkirchen lag der Anteil der Kinder unter 18 Jahren in Familien mit Hartz-IV-Bezug  im Dezember 2019 - vor Corona - bei 41,5%.                                 

Ich weiß, dass Chris derlei Dinge auch im Blick hat. Da sein Essay allerdings aus verständlichen Gründen einen anderen Schwerpunkt hat, habe ich die Gelegenheit zu diesem Kommentar gerne genutzt.