Mittwoch, 26. April 2023

Philosophenrunde-Melle  5. Mai 2023 

Planetare Krise: Liegt die Antwort im Geist?     Aus:  Ethik heute

Cover Metzinger

Ein Buch von Thomas Metzinger

Was können wir den großen Krisen entgegensetzen? „Uns fehlt eine neue Kombination von Herzensgegenwart und Geistesgegenwart“, schreibt der bekannte Philosoph Thomas Metzinger. In seinem Buch schlägt er vor, westliche Philosophie und Wissenschaft mit östlichen Meditationswegen zu verbinden. Ein wichtiges Buch für unsere Zeit.

Thomas Metzinger spricht Klartext: „Wir müssen uns ehrlich machen. Die Menschheit befindet sich mitten in einer planetaren Krise.” So beginnt sein Buch, in dem er den Krisen um Klima und Umweltzerstörung einen inneren Weg entgegensetzt, der Philosophie und Meditation zu einer säkularen Spiritualität verbindet.

Dabei betont er, dass Optimismus fehl am Platz sei. Wenn wir ehrlich sind, so seine Überzeugung, dann wüssten wir, dass die Klimakrise, die die Menschen in Gang gesetzt haben, nicht mehr verschwindet. Im Gegenteil: Auch wenn wir jetzt die CO2-Emissionen senken, wird sich der Klimawandel aufgrund der Trägheit des Klimasystems weiter fortsetzen.

Psychologische Kipppunkte

Nicht nur das: Im Zuge der fortschreitenden Erderwärmung ziehen auch innere Krisen auf. Metzinger nennt diese „psychologische Kipppunkte“. Sind diese erreicht, so seine Analyse, erkennen wir, dass wir uns selbst etwas vorgemacht haben, dass wir wider besseren Wissens nicht gehandelt haben, dass wir als ganze Menschheit gescheitet sind.

Dann werden wir unsere Selbstachtung und den Boden unter den Füßen verlieren. Wir sollten also nicht die drohende äußere Katastrophe abmildern, sondern auch innerlich gerüstet sein.

Ein Ausweg ist für Metzinger die Entwicklung einer neuen Bewusstseinskultur. Dem äußeren, materiellen Wachstum möchte er ein inneres Wachstum entgegensetzen. Wir sollten unsere Aufmerksamkeit auf das lenken, was das menschliche Leben von innen heraus bereichert, etwa Werte wie Selbstmitgefühl, Fürsorge und Mitgefühl, aber auch innere Balance und Ruhe durch Achtsamkeit und Meditation. Er fasst dies unter dem unscharfen Begriff „säkulare Spiritualität” zusammen.

Metzinger hat, wie er berichtet, seit 46 Jahren tiefe Erfahrungen in Meditation gemacht. Immer wieder verweist er auf die “Bewusstheits-Bewusstsein”, ein für ihn erstrebenswerter, nicht-begrifflicher meditativer Zustand tiefen Friedens, in dem auch das Hängen am Ego zur Ruhe kommt.

Intellektuelle Redlichkeit

Gleichzeigt fordert er, dass die neue Bewusstseinskultur auf „intellektueller Redlichkeit” beruhen müsse. Das bedeutet „die Weigerung, sich selbst in die Tasche zu lügen”. Intellektuelle Redlichkeit erkennt Vernunftgründe und wissenschaftliche Erkenntnisse an und lehnt alles ab, was diesen zuwiderläuft. Wenn sie auf Meditation beruht, kommt sie aus „nicht-egoistischen Bewusstseinszuständen, in denen das Ich-Gefühl fehlt.”

Den institutionalisierten Religionen spricht Metzinger intellektuelle Redlichkeit ab. Er bezeichnet sie als „Wahnsysteme”, denn sie setzten sich über Evidenzen hin, leugneten die Sterblichkeit leugneten und trösteten sich mit der Erlösung im Jenseits.

Was die neue Bewusstseinskultur genau beinhaltet, wird nicht im Detail ausgeführt. Offenbar will Metzinger nur einen Anstoß geben, damit so etwas entwickelt werden kann. Dadurch wird das Buch, gerade im zweitenTeil, etwas schwammig und unkonkret. Welche Tugenden sollten in so einer Bewusstseinskultur enthalten sein? Und wie können diese in einer säkularen Gesellschaft kultiviert werden?

Die „Bewusstseins-Bewusstheit” ist vermutlich nicht die Lösung. Nur wenige Menschen können damit etwas anfangen, und es würde große Mühen und Zeit erfordern, den Geist so tief in der Meditation zu schulen.

Unser Lebensmodell hinterfragen

Das Buch ist ein guter Impuls, um über unsere innere Verfasstheit nachzudenken und was diese mit der planetaren Krise zu tun hat. Es ist Metzinger hoch anzurechnen, dass er als westlicher Philosoph einen großen Schritt auf die östlichen Weisheitstraditionen zugeht und Meditation als ein gültiges Erkenntnissystem zulässt. Das weitet den Horizont.

Die Idee, gegen die Katastrophen der Zeit eine neue Bewusstseinskultur zu setzen, ist bedenkenswert. Der Rundumschlag gegen die institutionalisierten Religionen ist allerdings wenig hilfreich. Besser wäre es, angesichts der allgegenwärtigen Krisen den Blick auf das zu richten, was Menschen über Kulturen und Weltbilder hinaus verbindet.

Im Zuge einer neuen Bewusstseinskultur ließen sich Kriterien entwerfen, auf die sich alle einigen müssten, zum Beispiel tolerant, nicht dogmatisch zu sein, demokratische Werte, Menschenrechte, die Gleichheit der Frauen usw. anzuerkennen usw.

Insgesamt ist es ein anregendes Buch, gerade weil es so viele Fragen aufwirft und manches offen lässt. Es sollte Pflichtlektüre für alle Entscheider in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sein, denn der Ansatz ist überzeugend:

Unsere Lebensmodell, das auf Wachstum beruht, ist nicht nachhaltig und hat die planetare Krise hervorgebracht. Wir sind gescheitert und müssen jetzt Wege finden umzukehren und uns neu zu besinnen. Wie das geht, können wir nur gemeinsam entwickeln. Und dabei müssen wir auch an der geistigen Ausrichtung arbeiten.

Birgit Stratmann

Thomas Metzinger. Bewusstseinskultur: Spiritualität, intellektuelle Redlichkeit und die planetare Krise. Berlin Verlag 2023

 



Montag, 3. April 2023

 Philrunde 14. April 2023:

Auf dem Verlangen surfen                                     

Was wir von der Meditation lernen können           Ethik heute      

Energiekrise und Inflation erzeugen Furcht vor Wohlstandsverlusten. Doch wie kann man innerlich frei bleiben und mit Ängsten und dem Verlangen, dass alles bleibt, wie es ist, gut umgehen? Meditationlehrer Gerald Blomeyer gibt Anregungen aus der Achtsamkeitspraxis: Gefühle, auch unangenehme, wahrnehmen, und sie abklingen lassen – wie Wellen.

Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf das Verlangen richten und diese Haltung negativ bewerten, verlängern wir ungewollt ihre Dauer und verstärken die Intensität, mit der es erlebt wird.“ Jennifer Talley

Seit Generationen setzen die reichen Industrienationen auf Wirtschaftswachstum, um ihren Wohlstand zu sichern und zu vermehren. Gleichzeitig rücken die negativen Folgen für die Erde immer mehr in den Fokus.

Heute überlagern sich Krieg, Klima- und Energiekrise. Mittlerweile wissen alle, dass wir neu denken und anders handeln müssen. Die Menschen im Westen fürchten sich vor Wohlstandsverlusten, aber eine Anpassung des Lebensstils ist unausweichlich.

Wer Achtsamkeit oder andere Formen der Meditation übt, kann hier Anregungen finden, um mit Ängsten und Projektionen, aber auch mit Verlusten, Erwartungen und Sehnsüchten anders umzugehen.

Was sagt uns die Achtsamkeit? Das Leben entfaltet sich von Augenblick zu Augenblick. Wer achtsam innehält, kann die Gedanken und Gefühle anschauen, die jetzt da sind, anstatt sich über die Zukunft zu sorgen oder Vergangenes zu bedauern. Alle Erfahrungen sind flüchtig.

Ein Verlangen, zum Beispiel nach einer komfortablen Lebenssituation, entsteht impulsiv und drängt uns, gewohnheitsmäßig zu handeln. Es wird durch ein Ereignis, einen Gedanken, ein Gefühl, eine Erinnerung oder ein Bild ausgelöst.

Hilfe bei der Entwöhnung

Wer kennt das nicht? Ich spüre einen emotionalen Schmerz und glaube, dass Schokolade ihn lindert und mich glücklich macht. Doch das Glück ist nur vorübergehend. Je mehr ich mich nach etwas sehne, desto stärker wird mein Wunsch, es zu haben.

Der Drang, mich bei Facebook einzuloggen oder jemanden zu kontaktieren, sobald ich mich einsam oder gelangweilt fühlte, lenkt vom unangenehmen Gefühl nur vorübergehend ab. Der Psychologe Dr. Alan Marlatt, der sich viel mit Sucht beschäftigt und das Addictive Behaviors Research Center an der University of Washington leitet, entwickelte das Programm Surfing the Urge (vielleicht zu übersetzen mit „Auf dem Verlangen surfen“), um bei der Entwöhnung zu helfen.

Marlatt vergleicht das Verlangen mit einer Welle im Ozean. Auch die stärkste Welle vergeht relativ schnell. In ähnlicher Weise kann ein Verlangen intensiv sein, es dauert nach aber meist nur etwa 15 Minuten und ebbt von allein ab, wenn es nicht mit Gedanken weiter genährt wird.

Das Surfen auf dem Verlangen hilft, die Gefühle zu erkennen, ohne sich von ihnen beherrschen zu lassen. Studien zeigen, dass diese Technik doppelt so effektiv ist wie der Versuch, dem Verlangen durch Willenskraft zu widerstehen. Vermeidung oder Unterdrückung ist also keine gute Idee, denn dadurch verstärkt sich das Verlangen noch.

In jedem Augenblick kann man neu entscheiden

Der Geist und wie er verfasst ist, entscheidet darüber, wie ein Mensch die Wirklichkeit wahrnimmt. Starke Gefühle von Ablehnung oder Verlangen drängen ihn in eine jeweilige Richtung. Doch in jedem Augenblick kann man entscheiden innezuhalten, sich zurückzuhalten und etwas nicht zu tun.

Man kann, wenn man ungeschickt gehandelt hat, erst einmal neutral reagieren. Man kann sich darin üben, alles so substanzlos wie in einem Traum anzusehen oder wie bei einer Welle, die hochsteigt und bricht. Das schafft den Raum, andere Qualitäten wie Achtsamkeit, Weisheit, Mitgefühl und Liebe zu manifestieren.

Wer direkt erfährt und sieht, wie alles entsteht und vergeht, braucht dies weder als gut noch als schlecht zu bewerten. Das heißt nicht, dass man nicht zwischen ethisch heilsamen und unheilsamen Gedanken unterscheidet.

Entspannt Nein sagen

Wir können ein Verlangen wahrnehmen, ohne es ausleben zu müssen. Wir können liebvoll nein sagen, das heißt, unsere Wahrnehmungen, Handlungen und Gedanken zurückzuhalten.

Wer immer wieder einem Drang nachgibt, kommt nicht zur Ruhe. Wer den Impulsen folgt, versteht ihre Macht nicht und unterwirft sich. Erst wenn man einen Fluss staut, sieht man die Kraft der Strömung. Prioritäten zu setzen ist deshalb wichtig. Dies ermöglicht es, entspannt nein zu sagen.

Doch meistens wollen wir alles gleichzeitig haben, die Schokolade und die Freiheit. Meditation bedeutet, etwas loszulassen bzw. sich auf etwas einzulassen, um das, was da ist, wirklich und mit Freude zu erleben.

Willkommen heißen hilft Leiden zu überwinden

Kann der Mensch wirklich ohne die Dinge, nach denen er sich sehnt, gut leben? Und wie kann man innerlich frei leben, ohne dem Verlangen und all den Impulsen unterworfen zu sein?

Wer weise und großzügig ist, kann leichten Herzens auf Dinge verzichten. Er erkennt die Vorteile, nein zu dem Verlangen zu sagen, Dinge wegzugeben und loszulassen. Er kann anderen erlauben, das zu genießen, was er verschenkt.

Wer meditiert, lernt die vagabundierenden Ideen oder Sehnsüchte einfach anzunehmen als das, was sie sind: flüchtige Erscheinungen. Dann kann sich der Geist konzentrieren und befriedet werden. Denn hinter den Bewegungen liegt eine tiefe Ruhe.

Folgt man hingegen den Ablenkungen, greift der Geist danach und man verfestigt mit den Gedanken einen Zustand, der eigentlich schon wieder vorbei ist.

In einem Zustand der Stille wird der Geist freier. Man versteht, woher die Impulse kommen, die ihn aus dem Gleichgewicht und der Stille reißen.

Dann kann man den Geist dorthin bringen, wohin man ihn haben möchte. Dieser Gleichmut hilft uns zu sehen, dass wir genug haben und in jedem Moment zufrieden sein können.

Wie der amerikanische Meditationslehrer Joseph Goldstein ausdrück: „Durch die Kraft der Zurückhaltung beginnen wir, unser Wollen, Verlangen und unseren Ärger loszulassen. Das schafft den Raum für eine andere Art von Beziehung, von einer mit Mitgefühl und Liebe.“

Gerald Blomeyer hat auch eine Meditation zum Thema verfasst. Zur Meditationsanleitung “Verlangen in der Meditation anschauen”

Foto: Heidi Scherm

Nach acht Jahren in Indien und Nepal unterrichtet Gerald Blomeyer seit 2015 Kurse zur Meditation, achtsamen Kommunikation und Buddhismus in Berlin und Hamburg. Beruflich lehrte er zehn Jahre an Universitäten und leitete 17 Jahre seine eigene PR-Agentur. Auf seiner Website finden Sie auch geführte Audio-Meditationen: www.blomeyer.berlin Eine Auswahl auch auf Insight Timer