Montag, 23. Oktober 2023

Pro

Philosophenrunde 3.11.2023 

Pro Israel oder pro Palästina?
Warum nicht pro Menschlichkeit?                    
www.be-the-change.de
von Vivian Dittmar
Vieles ist gerade schwer auszuhalten: Was in Israel geschehen ist, was in Gaza geschieht,
wie der Klimawandel verschleppt wird, der Ukrainekrieg längst traurige Normalität
geworden ist, die Zahl der Geflüchteten steigt und die Gesellschaft unaufhaltsam nach
rechts zu rutschen scheint, von der Inflation ganz zu schweigen. Unerträglich wird es für
mich, wenn ich beobachte, wie wir reflexartig in den immer gleichen Schemen landen. Es
hat sich eine neue Begrenztheit in die mediale Berichterstattung, die Rhetorik der Politiker
und offenbar auch in unser Denken eingeschlichen.
Es setzt sich damit in Europa ein Trend fort, den ich schon vor Jahrzehnten, als ich noch in den
USA lebte, beobachtete. Es ist das „Entweder-Oder-Denken”, das überall künstliche Gegensätze
konstruiert, wodurch Feindbilder geschürt und Lager gebildet werden. Im Moment ist es der
Automatismus, dass man entweder pro Israel oder pro Palästina ist, wobei pro Israel natürlich die
politisch korrekte Haltung ist. Alles andere verbietet sich vor dem Hintergrund der deutschen
Geschichte. Aber was ist, wenn pro Israel oder pro Palästina die falsche Frage ist?
Der Staat Israel ist entstanden, um unschuldig verfolgte und ermordete Menschen zu schützen.
Die Grundidee ist die der Menschlichkeit. Ein Appell, sich mit Israel zu solidarisieren ist daher im
Grundgedanken ein Appell, sich zu den Werten der Menschlichkeit zu bekennen. Doch wenn ich
diese Werte ernst nehme, dann muss ich auch pro Selbstbestimmung der Menschen in Palästina
sein. Und es bedeutet auch, die Taten der Hamas als die schrecklichen, menschenverachtenden
Gräueltaten zu benennen, die sie sind.
Gebetsmühlenartig wird beteuert, dass nichts solche Taten rechtfertige und wir alle wissen, was
diese Worte zu verbergen suchen. Sie versuchen jeden Verweis auf die Unrechtmässigkeit
israelischer Siedlungspolitik im Keim zu ersticken. Aber warum können wir nicht ehrlich über
beides sprechen?
In Israel und in Palästina leben Menschen. Die allermeisten wollen keinen Krieg. Sie wollen ihre
Familien versorgen, einer Arbeit nachgehen, ein schönes Leben haben. Und es leben in beiden
Gebieten Menschen, die der jeweils anderen Bevölkerungsgruppe ihre Menschlichkeit absprechen
und diese dann mit Füßen treten.
Wenn ich sage, dass nichts Taten wie die Massaker der Hamas rechtfertigt, bin ich dann auch
bereit zu sagen, dass nichts die Ermordung unschuldiger Zivilisten in Gaza rechtfertigt?
Entweder-oder-Denken führt zu falschen Rückschlüssen mit fatalen Konsequenzen. Sowohl-als-
auch-Denken ist oft viel klüger, näher an der Wahrheit und konstruktiver. Sowohl Menschen in
Israel als auch Menschen in Gaza wollen Frieden. Sowohl die Hamas als auch die israelische
Armee verstößt gegen Menschenrechtskonventionen.
Dies anzuerkennen bedeutet nicht, wie oft behauptet wird, falsche Gleichnisse zu ziehen. Ich kann
ein Massaker an über tausend Frauen, Männern und Kindern, das mit unvorstellbarer Brutalität
verübt wurde, mit nichts vergleichen. Und ich kann die unablässige Bombardierung eines dicht
besiedelten Gebiets mit nichts vergleichen. Jedes dieser Grauen steht für sich in seiner
Schrecklichkeit. Und ich muss es nicht vergleichen oder gar gleich setzen, um anzuerkennen,
dass beides gegen genau jene Werte verstösst, die uns heilig sind: Den Schutz von Menschen,
die Werte der Menschlichkeit.
Wenn ich diese Werte ernst nehme, dann muss ich den Mut haben, überall
Menschenrechtsverletzungen zu benennen und zu verurteilen. Wenn wir diese Werte ernst
nehmen, dann dürfen wir nicht mehr zulassen, dass einzelne Nationen den Status der absolut
Guten für sich reklamieren, ohne an ihren Taten gemessen zu werden – eine Haltung, die sich bei
den USA genauso beobachten lässt wie bei Israel oder der Ukraine. Im Umkehrschluss bedeutet
es auch, dass wir uns nicht darauf ausruhen dürfen, bestimmte Bevölkerungsgruppen oder
Nationen zu dämonisieren und ihnen ihre Menschlichkeit abzusprechen, wie es in Kriegszeiten
immer wieder passiert.
Viel wichtiger ist es, anzuerkennen, dass wir als Menschen eine riesige Bandbreite haben. Wir
sind zu tiefer Liebe genauso fähig wie zu abgrundtiefer Grausamkeit. Statt die jeweils anderen zu
dämonisieren braucht es die Bereitschaft, immer neue Strategien zu entwickeln, mit unseren
dunklen Seiten umzugehen. Das gilt sowohl auf einer ganz persönlichen Ebene, wo jeder von uns
Momente kennt, in denen wir Dinge denken und zuweilen auch tun, die nicht unseren Werten
entsprechen. Und es gilt auf kollektiver Ebene, wo wir Rahmenbedingungen schaffen müssen, die
den Missbrauch von Gewalt, zu dem wir fähig sind, unterbinden. Genau wie ich weiß, dass die
Polizei kommt, wenn ich meinem Nachbarn gegenüber handgreiflich werde, brauchen wir auf
internationaler Ebene eine Instanz, die im Fall von Gewaltmissbrauch, schnell, effektiv und neutral
eingreift.
Auf emotionaler Ebene brauchen Menschen Unterstützung, um Gewalterfahrungen zu verarbeiten,
statt sie einfach an die nächste Generation oder „die Anderen” weiterzugeben. Aus diesem Grund
habe ich mit israelischen Partnerinnen den Emotional Safe Space gestartet: Um betroffene
Menschen darin zu unterstützen, die schrecklichen Ereignisse so zu verarbeiten, dass sie mit ihrer
Menschlichkeit in Kontakt bleiben können. Von außen ist es sehr leicht, das zu fordern. Doch
wenn wir selbst ein Kind oder einen geliebten Menschen auf schrecklichste Art verloren haben,
braucht es Räume, in denen das verarbeitet werden kann und der reflexartige Ruf nach Rache
überwunden werden kann.
Indem wir selbst als Außenstehende in die Falle tappen, uns vorschnell mit der einen oder
anderen Nation zu solidarisieren, statt uns zu bestimmten Werten zu bekennen, die nichts mit
nationalen Grenzen zu tun haben und die keine Nation für sich gepachtet hat, werden wir Teil des
Problems, das wir aus der Welt schaffen wollen. Deshalb mein Appell: Solidarisieren wir uns mit
den Menschen überall, die sich Frieden wünschen und die in ihren Herzen darum kämpfen, nicht
Opfer des eigenen Schmerzes zu werden, der dann in Hass und Gewalt umschlägt. Und reichen
wir immer wieder jenen die Hand, die diesen inneren Kampf offenbar verloren haben, während wir
ihnen zugleich klare Grenzen aufzeigen.
 

Vivian Dittmar ist Autorin, Gründerin der Be the Change-Stiftung
und Impulsgeberin für kulturellen Wandel. Ihre Kindheit und
Jugend auf drei Kontinenten sensibilisierte sie früh für die globalen
Herausforderungen unserer Zeit und sind bis heute ihr Antrieb,
ganzheitliche Lösungen zu finden. Durch ihre Bücher, Vorträge,
Seminare, Onlineangebote und umsetzungsorientierte Projekte
engagiert sie sich seit zwei Jahrzehnten für eine holistische
Entwicklung von Mensch, Gesellschaft, Wirtschaft und
Bewusstsein. Zu ihren Bucherfolgen zählen „Gefühle &
Emotionen“, „beziehungsweise“, „Der emotionale Rucksack“,
„Das innere Navi“ und „Echter Wohlstand“.
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