Dienstag, 17. Dezember 2019

Nachschau 6.12.2019: Ethik ist wichtiger als Religion    Klaus Burghardt

Zu den Quellenangaben siehe die Nachschau vom 4.10.19. Grundlage des aktuellen Gesprächs war der siebt- oder achtletzte Abschnitt des Appells:   
     „Durch Meditation und Nachdenken können wir zum Beispiel lernen, dass Geduld das wichtigste Gegenmittel gegen die Wut ist, Zufriedenheit gegen Gier wirkt, Mut gegen Angst, Verständnis gegen Zweifel. Zorn über andere hilft wenig, stattdessen sollten wir dafür sorgen, dass wir uns selbst ändern.“
     Geht es, so wurde gefragt, hierbei in erster Linie um Gefühle? Ziel sei eine neue „Ethik des 21. Jahrhunderts“. Der Dalai Lama schlage hier Methoden vor, um diese Ethik zu entwickeln. Es gehe nicht darum, recht zu haben, sondern darum, die Position des Anderen zu verstehen. Dann könne man eine gegensätzliche Meinung eher stehen lassen, was das Zusammenleben erleichtere.
     Aber - hieß es auch - die Superethik laute: Sex und Geld!
Weiter ohne Konjunktiv:
     Religion hat viel mit formalen Vorschriften zu tun. Der Dalai Lama legt mehr Wert auf die Inhalte. Kann man Wut durch Geduld auflösen? Man muss sich zurücknehmen, sich fragen: Was passiert mit mir? Vielleicht hat der Andere doch recht?
     Funktioniert der Mensch so? Wenn ich wütend bin, braucht es dann nur etwas guten Willen, damit ich sanftmütig werde? Wenn ich Angst habe, wie kann ich mutig werden? Das Hirn ist ein autonomer Organismus. Eine übergeordnete Stelle gibt es nicht. Willensanstrengung hilft da nicht weiter. 2000 Jahre Christentum haben den Menschen nicht verändert. „Tut Buße“ (Johannes) - d.h.: Ändert euch! Wer oder was bewirkt denn die Veränderung? „Fürchtet euch nicht!“ Habt keine Angst. Wo kommt der Mut her? Wenn das so einfach wäre, sähe die Welt besser aus.
     Um eine Ethik ausüben zu könne, braucht es eine humane Erziehung. Die 10 Gebote bieten sich als Inhalt an. Wer die Gebote als moralisches  Recht ansieht und sich daran hält, wird von Gott geliebt. Voraussetzung hierfür ist allerdings eine Ausbildung. Diese gab es bisher nur in Klöstern oder ähnlichen Einrichtungen. Die 10 Gebote sind „das Ausgießen der Religion über den Menschen.“ Ethik und Religion sind vereint.
     Entscheidend beim Überwinden negativer Emotionen ist die Bewusstwerdung. Im Zustand der Wut bin ich außerstande, den erforderlichen Abstand einzunehmen und die Geduld als Gegenpol wachzurufen. Das Bewusstwerden, die Achtsamkeit müssen eingeübt werden. „Ich bin achtsam bei mir selbst.“ Das ist eine übergeordnete Instanz. Sie ist transzendental, nicht anatomisch, nicht an Gehirnfunktionen festzumachen. „Die Korrelate allerdings sind messbar!“
     Sich die Geduld als Gegenmittel vorstellen zu können, das ist nicht leicht. Erfahrung ist wichtig. Früher haben die Menschen geglaubt, die Erde sei eine Scheibe. Kolumbus hat die Erfahrung gemacht, das dem nicht so ist. Man muss etwas tun, die Erfahrung machen. Angst oder Skepsis können solche Erfahrungen verhindern.
     Erziehung, Bildung, Aufklärung, ... Der Fortschritt der Menschheit ist ein langer, mühsamer Prozess. Wir wissen, dass die Erde um die Sonne kreist, aber in der Sprache geht die Sonne auf oder unter. Der Mensch galt als Krone der Schöpfung, als Gottes Ebenbild. Dann hieß es, er stamme vom Affen ab, er gehört also ins Tierreich. „Und dann erwarten wir, dass er vernünftig ist. Das ist er aber nicht.“ Die Vernünft lässt sich vom Herzen immer wieder düpieren. „Blind vor Wut“ heißt es. Dann kommt niemand auf die Idee, geduldig zu sein.
     Wut verdrängt die Vernunft. Man kann aber die Fähigkeit einüben, sich zurückzunehmen, damit diese Fähigkeit im Moment des Affekts auftaucht. Ein solches Achtsamkeitstraining sollte in den Schulunterricht integriert werden.
     Wir kommen aus dem Tierreich, aber wir haben das Potential, uns weiter zu entwickeln. Jeder entscheidet, welchen Weg er geht. Viel Anstrengung und Zeit sind nötig.
     Eine Teilnehmerin beobachtet, dass ihr kleiner Sohn wütend wird, wenn er sich nicht verstanden fühlt. Demnach wäre auch Verständnis ein Mittel gegen die Wut.
     Welche Folgen könnte es haben, wenn sich die Bedingungen auf der Erde ändern, wenn z.B. Hungersnöte als Folge der Klimaänderungen auftreten? Wenn Zorn, Hass, Wut überhand nehmen - wie soll da eine Ethik funktionieren?
     Rücken die Menschen in Notzeiten enger zusammen, entwickeln Mitgefühl? Oder geht es dann zurück ins Tierreich?
     Eine säkulare Ethik ist weltlich, nicht geistlich. Sie muss weltumspannend sein. Voraussetzung ist Verständnis. Blicken wir nach Gaza: Wo kann da das Verständnis anfangen?
     Die Probleme entzerren sich, wenn wir geduldiger werden und verständnisvoller miteinander umgehen, die Position des anderen verstehen, ohne die eigene aufzugeben. Das ist der erste Schritt zu einer säkulären Ethik.

Politischer Exkurs:
Die Rationalität der französischen Streikbewegung gegen die Renten“reform“ wurde in Zweifel gezogen. Die Reform sei nötig, es handele sich um eine Frage der Arithmetik. Wenn dem so sei, hieß es: Reiche es dann, alleine den demografischen Faktor einzubeziehen, oder spielten auch Aspekte wie Produktivität und Zinsen eine Rolle?
     Weitere Fragen:
Geht es um die Verteidigung von Privilegien (Rente ab 52 für Lokführer), deren Abschaffung mehr Gerechtigkeit schaffen würde, oder ist die Reform Bestandteil einer bereits seit Jahren praktizierten Strategie der Umverteilung von unten nach oben? Leben wir angesichts einer Staatsquote von 50% bereits im Kommunismus, oder ist in Anbetracht weitgehender und fortschreitender Privatisierungen eher das Gegenteil der Fall?
     Da diese Thematik nur sehr vermittelt mit dem Text des Dalai Lama zusammenhängt und für ein ergiebiges Gespräch detaillierte Kenntnisse des g e s a m t e n Reformvorhabens wie auch der politischen und sozialen Verhältnisse in Frankreich erforderlich scheinen, gehe ich auf diesen Teil des Treffens nicht weiter ein.

Kommentar zum „politischen Exkurs“ (Klaus Burghardt)
Produktivität schlägt Demografie
Um 1900 kamen auf eine Person über 65 Jahren rund 12 Erwerbsfähige, in 2000 waren es gerade noch 4 (Quelle:ver.di). Ein dramatischer Rückgang, einschneidender als der, der für die nächsten 50 Jahre prognostiziert wird.
Der Lebensstandard aber ist in dieser Zeit deutlich gestiegen. Es gibt keinen Automatismus, dem zufolge steigende Lebenserwartung weniger Wohlstand bedeutet. Entscheidend ist die Verteilung des
Produktivitätsfortschritts. Findet diese „gerecht“ statt, kann auch der Sozialstaat finanziert werden.
(Einflussfaktoren wie Beschäftigungsgrad, Bildung, Lohnhöhe etc. lasse ich hier beiseite.)
Derlei Zusammenhänge werden von interessierter Seite gerne ignoriert. Gerd Bosbach, Professor für Statistik und Empirische Wirtschafts- und Sozialforschung an der Hochschule Koblenz, weist darauf hin, dass Institutionen extra dafür geschaffen wurden, um „den demografischen Wandel in der Öffentlichkeit verständlich [sic!] zu machen1.“
Dahinter stehende Interessen? Bosbach nennt als größte Interessengruppe die
Versicherungswirtschaft. Diese wolle an den gesetzlichen Rentenanteil, der 10% des Bruttoinlandsprodukts ausmache - ein Batzen von über 300 Md. €2. Dafür lohnt es sich ohne Frage, das eine oder andere Institut zu gründen, um mit wissenschaftlichem Renommee im Rücken die Privatisierung der Rente bewerben zu können. Und: Alle Arbeitgeber profitieren von
einer Senkung der Lohnnebenkosten, deren größten Teil eben die Rentenbeiträge ausmachen.
In Frankreich sieht es ähnlich aus. Ex-Investmentbanker Macron und andere Regierungsvertreter treffen sich mehrmals mit dem Boss der weltweit größten Fondsgesellschaft Blackrock (Verwaltetes Vermögen: Fast 7 Bio. $).
Thema u.a.: Privatisierung der Staatsunternehmen. Der Präsident von Blackrock France, Cirelli, dient Macron in der Kommission für den Rückbau des französischen Staates. „Wichtiger Punkt auf der Agenda: die Neuorganisation der privaten Altersvorsorge“ (Tagesspiegel). Der Hochkommissar für Pensionen, Delevoye, ist seit 2016 Direktor des Ausbildungsinstituts der Versicherungswirtschaft (Libération), ...  

1 Keine Ahnung, welche Insitutionen Prof. Bosbach konkret im Auge hat. Einrichtungen, die sich für eine Privatisierung der Altersvorsorge einsetzen, sind z.B.: Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung, Forschungszentrum Generationenverträge-Institut, Deutsches Institut für Altersvorsorge, ... Weitere Infos:https://www.diverseverse.de/politisches/rentenprivatisierung/
Achtung: Der Link wurde geändert!

2 Das deutsche BIP betrug 2018 = 3.344,37 Md. €. Davon 10% machen ca. 334 Md. aus. Quelle: statista.com

Vorschau 3.1.2020                                         Christian Brehmer

Der "Appell des Dalai Lama an die Welt" bewegt uns immer noch. Gemäß einer Emnid- Umfrage wird der tibetische Mönch als der weiseste Mensch der Welt eingestuft . Selten hat sich ein Text als so fruchtbar für einen Gedankenaustausch erwiesen. Handelt es sich doch um den Ausweg aus der  Gegenwartskrise der Menschheit. Jeder bewusste Staatsbürger, gleich welcher Nation, jede/r Oberstufenschüler/in sollte sich damit auseinandersetzen. Am 3.1. geht es um die letzten Abschnitte des Appells.
       "Ich schlage vor: Mehr zuhören, mehr nachdenken, mehr meditieren. Mit Mahatma Gandhi meine ich: > Wir müssen selbst die Veränderung sein, die wir in der Welt zu sehen wünschen.< ". (S.11) Sich selbst verändern kann unangenehm sein. Wer will schon geduldig an sich selbst arbeiten und seinem inneren Chaos ins Auge sehen?  Längst ist die ganzheitlich-heilsame Wirkung von Meditation wissenschaftlich nachgewiesen. Und dennoch scheuen sich noch viele davor, wie  Kleinkinder, die sich vor der Medizin scheuen.
Dalai Lama (um es zu wiederholen): "Wenn alle 8-Klässler die Meditation erlernen würden, hätten wir Weltfrieden in einer Generation".