Samstag, 19. Juni 2021

 

Tierethik -                                                                    Klaus Burghardt

Einige Aspekte der Schopenhauerschen Mitleidsethik 

Als mir vor einiger Zeit der Gedanke kam, dass das Thema Tierethik eine passende Ergänzung zu dem Problembereich „Der Omnivore vs. vegane Ernährung“1 sein könnte, da wusste ich noch nicht, dass Albert Schweitzer Schopenhauer eine Pionierrolle in der Tierethik zugeschrieben hatte2.

 

Aus mehreren Gründen sehe ich angesichts der Vielzahl tierethischer Ansätze die Schopenhauersche Mitleidsethik für unsere Runde als am besten geeignet an. Insbesondere scheinen mir - anders als dies etwa beim durch seine Radikalität für einen spannenden Disput ohne Zweifel bestens geeigneten Egalitarismus3 der Fall ist - zwei grundlegende Annahmen seiner Philosophie ohne komplizierte Argumentationsketten quasi intuitiv einsichtig zu sein:

  1. Wir sind verpflichtet, niemandem Leid zuzufügen oder ihn seinem Leiden zu überlassen, sofern Abhilfe möglich und zumutbar ist.
  2. Leidensfähige Tiere unterscheiden sich in Bezug auf diese ihre Eigenschaft nicht wesentlich vom Menschen.

Schopenhauer scheint davon auszugehen, dass es eine Art Einverständnis darüber gibt, was als moralisch gilt und dass wir so etwas wie einen von allen akzeptierten Kernbereich moralischer Handlungsprinzipien annehmen können. Die Forderungen der Moral seien „jedem wohlbekannte“, meint er. Und über die Prinzipien der Moral seien sich alle Ethiker eigentlich einig. Die Inhalte der Moral erschöpfen sich in zwei von allen Moralsystemen geteilen Grundsätzen:

  • Schädigungen anderer sind zu unterlassen („Prinzip der Gerechtigkeit“)
    und:

  • Man soll anderen nach Kräften beistehen (Prinzip der Menschenliebe“)

Dabei ist Mitleid das einzige Motiv, das Handlungen einen moralischen Wert verleiht - Mitleid nicht nur als Anteilnahme an fremdem Leid, sondern zugleich als Willen zu aktiver (!) Leidenslinderung. Gegenstand des Mitleids sind hierbei alle fühlenden Wesen - auch die leidensfähigen Tiere.

 

Womit wir bei seiner zweiten o.a. Annahme sind: dass das "Wesentliche und Hauptsächliche im Thiere und im Menschen das Selbe ist". Insbesondere stimmen Mensch und Tier darin überein, dass sie Schmerzen empfinden und unter der mangelnden Befriedigung naturgegebener Bedürfnisse leiden können. Solch Anerkennen der tierlichen Leidensfähigkeit ist in der Geschichte der Philosophie - denken wir etwa an Descartes, der Tiere mit Maschinen gleichsetzte - keineswegs selbstverständlich.

 

Für Schopenhauer hingegen zeigt sich die Verwandschaft zwischen Mensch und Tier einschließlich der Leidensfähigkeit zumindest der höheren Tiere schon in der unmittelbaren Erfahrung:

 

Alle Handlungen und Gebehrden der Thiere, welche Bewegungen des Willens ausdrücken, verstehn wir unmittelbar aus unserm eigenen Wesen; daher wir, so weit, auf mannigfaltige Weise mit ihnen sympathisiren“.

 

Der deutsche Philosoph Birnbacher dazu:

 

Diese Verwandtschaft wird inzwischen kaum noch geleugnet. Sie wird überdies durch die enge genetische Verwandtschaft zwischen Mensch und Wirbeltieren bestätigt. Darüber hinaus beruft sich Schopenhauer aber auch auf die tierische Anatomie und die Verhaltensbeobachtung in der Zoologie (IV/2, 240), die keine scharfe Grenze, sondern fließende Übergänge zwischen Mensch und Tier erkennen lassen. Auch die anatomischen Übereinstimmungen sind weitgehend bestätigt worden.“ (S. 4)

 

Und wenn es denn in der Moral darum geht, Leiden zu mindern, und wenn höhere Tiere ebenso wie Menschen leidensfähig sind - warum soll dann lediglich das Quälen von Menschen, nicht aber das von Tieren verboten sein?

 

Welche Tiere nun allerdings leidensfähig sind und welche nicht, wo genau diese Grenze zu ziehen wäre, dazu scheint sich Schopenhauer nicht eindeutig geäußert zu haben. Wie auch? Ist diese Grenze doch sogar heute noch strittig.

 

Er setzt allerdings die Leidensfähigkeit von Tier und Mensch ins Verhältnis - mit dem Resultat, dass Tiere weniger leidensfähig seien, weshalb man etwa Zug- und Lasttieren nach dem Grundsatz der globalen Leidensminderung die ihnen aufgetragenen Arbeiten zumuten könne.

 

Warum sind Tiere weniger leidensfähig? Weil „in der Natur die Fähigkeit zum Leiden gleichen Schritt hält mit der Intelligenz“. Da Tiere ihm zufolge zwar über einen Verstand verfügen, nicht aber über Vernunft4 (die ihrerseits u.a. die Vorwegnahme zukünftiger Ereignisse aufgrund vergangener Erfahrung ermöglicht), geht er davon aus, dass Tiere ohne Erinnerung und Voraussicht in einer „ausdehnungslosen Gegenwart“ leben. Zudem bejaht er die These, dass sich die Intensität des Leidens nach der Fähigkeit zu Erinnerung und Voraussicht bemisst.

 

Laut Birnbacher sind aus heutiger Sicht beide Annahmen nur mit Einschränkungen aufrechtzuerhalten. Er weist u.a. auf Berichte aus Tierarztpraxen hin. Diese legen viel eher nahe, dass

gerade die mangelnde Fähigkeit, das Zugemutete zu verstehen, es als harmloses oder notwendiges Übel zu erkennen und ein Ende des Leidens abzusehen, die Leidensintensität erhöht. Tiere scheinen Schmerzen in ähnlich hilfloser Weise ausgeliefert wie Kleinkinder. Sie reagieren, unabhängig davon, ob man ihnen einen Begriff von Leben und Tod zusprechen kann, mit Todesangst und Verzweiflung. Nicht zufällig muss bei Tieren (wie bei Kindern) oft auch dann Narkose angewendet werden, wenn sie bei einem erwachsenen Menschen überflüssig wäre.“ (S. 7)

 

Schopenhauer sieht sich in Bezug auf seine tierethischen Ausführungen aber noch mit weiterer Kritik konfrontiert. So bekenne er sich etwa nicht zum Vegetarismus. Auch könne er sich trotz seiner dezidierten Hinwendung zum Tier nicht zu einer Postulierung von Tierrechten - wesentlich wäre hier das Recht auf Leben (im Sinne eines Tötungsverbots) - durchringen. Und in der Tat: Solange die Tötung schmerzfrei erfolgt und nicht anzunehmen ist, dass Tiere fähig sind, sich vor einer bevorstehenden Tötung zu ängstigen, scheint Schopenhauer Letztere nicht als Problem zu sehen. Die von ihm genannten Bedingungen - und das ist nun meine persönliche Anmerkung - sind allerdings zumindest in unserer heutigen Zeit fast nirgendwo gegeben. Das Leiden beginnt spätestens mit dem Abtransport, der Ankunft im Schlachthof, der keineswegs immer erfolgreichen Betäubung ...

 

Auch die anderweitige Nutzung von Tieren lehnt Schopenhauer vor dem Hintergrund seiner Prinzipien nicht ab, solange die den Tieren verursachten Leiden durch die den Menschen ersparten mehr als aufgewogen werden. Misshandlungen allerdings verurteilt er. Zu den Zugpferden merkt er an:

"Die größte Wohlthat der Eisenbahnen ist, daß sie Millionen Zug-Pferden ihr jammervolles Daseyn ersparen".

 

Tierversuche hält er prinzipiell für zulässig, kritisiert allerdings heftig Wissenschaftler, die offensichtlich nutzlose Versuche durchführen oder solche, die nur geringen Nutzen bringen.

 

Was aber sagt Schopenhauer zur Verwendung von Tieren im Sport? Insbesondere dort, wo diese mehr den Status von Sportgeräten denn von Mitgeschöpfen haben? Im Zirkus? In Zoos und Aquarien? Wie würde er sich zum Klonen und zur Xenotransplantation positionieren? Dazu, so fürchte ich, müssen wir uns unsere eigenen Gedanken machen. Als Hobbyphilosophen sollte uns das nicht allzu schwer fallen :-).

 

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1 Unser Thema im Mai d.J. Siehe http://philosophenrunde-melle.blogspot.com/

 

2 Meine Ausführungen basieren auf einem Vortrag des Philosophen Dieter Birnbacher vom 13.4.2014.

   Das Transkript ist unter diesem Link zugänglich:

   https://docplayer.org/43424685-Cafe-philosophique-duesseldorf-13-april-arthur-schopenhauer-wegbereiter-der-tierethik-dieter-birnbacher.html
   Da es sich bei meinem Text nicht um eine wissenschaftliche Arbeit handelt, erlaube ich mir (auch aus Gründen der besseren

   Lesbarkeit), Textpassagen teilweise eng an das Original angelehnt zu paraphrasieren, teilweise gar wörtlich wiederzugeben,

   ohne sie als Zitat zu kennzeichnen.

 

3 Der tierethische Egalitarismus geht davon aus, dass alle Lebewesen in der moralischen Gemeinschaft gleich behandelt werden müssen.

   Die Leidensfähigkeit menschlicher Tiere* steht nicht über der anderer Tiere. Dies hat eine Reihe kontraintuitiver Konsequenzen.

   Beispiel: Im Rettungsboot ist noch ein Platz frei. Bekommt ihn der Mensch oder der Hund? Wenn ihn der Mensch bekommt - wie

   begründet dies der Egalitarist, ohne sich dem Vorwurf des Speziesismus auszusetzen?

 

* „Der Mensch (...) ist nach der biologischen Systematik eine Art der Gattung Homo aus der Familie der Menschenaffen, die zur Ordnung

   der Primaten und damit zu den höheren Säugetieren gehört.“ (Wikipedia)

 

4 Unser Thema im Juni 2016: Verstand –Vernunft – Glaube;

  Siehe: http://philosophenrunde-melle.blogspot.com/2016/05/

 

05/21


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