Mittwoch, 23. Februar 2022

Philrunde 4.3. 2022:

Spiritualität im Alltag

Ein Blogbeitrag von Hans-Ueli Schlumpf an die Philosophenrunde

           Anmerkung des Blogverwalters: Dieser Beitrag wurde speziell für die Runde verfasst..

           Der Autor ist Gründer und Leiter des "Competency Center for Integral Evolution and

           Leadership", Basel: www.cciel.ch

            

Bevor man sich über ein Thema austauschen kann, lohnt es sich zudefinieren, wovon man spricht. Unter dem Begriff Spiritualität kann man ganz Unterschiedliches verstehen. Traditionellerweise wird Spiritualität eng mit Religion verbunden. Je nach Definition können diese beiden Begriffe sehr eng miteinander verknüpft sein. Im Handumdrehen kann man sie aber auch so verstehen– oder leben –, dass sie durchaus Berechtigung haben, als zwei ganz unterschiedliche Konzepte interpretiert zu werden. Was könnte also «Spiritualität im Alltag» bedeuten? Etwa ein tägliches Gebet vor dem Schlafengehen oder regelmässige Kirchengänge? Die Integration spiritueller Übungen, wie z. B. Yoga oder Meditation, in den Tagesablauf? Kontakt zu geistigen Welten, die sich dem alltäglichen Wahrnehmungsvermögen entziehen? Hellseherische Fähigkeiten oder esoterische Weltanschauungen? Rauschähnliche Bewusstseinserweiterung? Ganz allgemein einen tieferen Kontakt zu sich selbst und zum Leben? Vielleicht ganz pragmatisch: Eine aufgeschlossene Lebenshaltung mit beiden Füssen auf dem Boden? Eine bewusste, selbstverantwortete Lebensgestaltung mit offenen Sinnen im Hier und Jetzt?Vielleicht von allem ein bisschen oder noch einmal ganz was anderes?

Es scheint ein Phänomen unserer Zeit zu sein, dass wir zunehmend aufgefordert sind, erst einmal Begrifflichkeiten zu klären, wenn wir miteinander über etwas reden. Die Welt ist zu vielfältig (geworden), als dass man (immer noch) von der Selbstverständlichkeit ausgehen könnte, dass man auf Anhieb das Gleiche meint. Der Alltag wirdüberflutet von – mehr oder weniger kohärenten, oftwidersprüchlichen – Informationen, die über die unterschiedlichsten Medien auf Menschen einprasseln. Die ganze Vielfalt von Anbietern(High-Tech-Giganten, Onlineshops,Ladengeschäfte, Institutionen, Expert:innen, Influencer etc.)buhlen um die Wette (gegen die davonlaufende Zeit und die nicht schlafende Konkurrenz) und die Gunst von Kunden – Menschen, die auf der Suche sind nach Aufmerksamkeit, Komfort, Spektakel, Glücksgefühle, Sicherheit und Erfolg, und das alles lieber heute als erst morgen:Instant-Gratificationist das Bedürfnis der Stunde. Wohlklingende Schlagwörter (Globalisierung, Diversität, Digitalisierung, Agilität, Disruption, Purpose, New Work, Innovation, Change, Transformation etc.) prägen die Szenerie; Versuche, das Geschehen, Phänomene, Trends, Herausforderungen oderBewältigungsstrategien zu beschreiben.Die vermeintliche gemeinsame Gesprächsbasis entpuppt sich nicht selten als Illusion, sobald sich Menschen miteinander an einen Tisch setzen. Man glaubt, man rede vom Selben, aber jede:r versteht etwas anderes – sofern man in der schnelllebigen Zeit überhaupt die Zeit aufbringt und sich die Mühe macht, etwas zu verstehen. Marktschreierische Versprechen verführen zu – vermeintlichen, kurzlebigen – Glückserlebnissen. Surfen, Shoppen, Gamen, Streamen, DownloadenoderChatten sind die Kernkompetenzen in einer digitalen Welt. Vielversprechende Konzepte,Methoden und Tools wecken Erwartungen in der Arbeitswelt, wie Führung und Zusammenarbeit vermeintlich spielendgelingenoder Ziele agiler erreicht werden. Und schon am nächsten Tag landen alle wieder auf dem Boden der Realität – wenn nicht, dann kann irgendwann ein Burnout dafür sorgen. Je nach Definition durchaus eine spirituelle Erfahrung.

Spiritualität kann ein effektiver Weg sein, wenn nicht gar zum Königsweg werden, um sich in unserer herausfordernden Zeit auf das Wesentliche zu besinnen und sowohlalltägliche Aufgaben wahrzunehmen als auchgut für unsere Bedürfnisse und Gesundheit zu sorgen, dabei vielleicht auch einem tieferen Sinn des Lebens etwas auf die Spur zu kommen.Grosse spirituelle Meisterbezeichnen Spiritualität als achtsames Präsentsein in jedem Augenblick bei jeder Art von Tätigkeit, so lehrt es z. B. die Zen-Tradition. Dies kann in einfachen Worten zum Ausdruck kommen: Wenn du gehst, dann gehst du. Wenn du sitzt, dann sitzt du. Wenn du isst, dann isst du. Wenn du arbeitest, dann arbeitest du. Eine überlieferte Geschichte aus dem Zen-Buddhismus erzählt von einer Unterweisung eines Meisters an seinen Schüler, der behauptete, das mache er doch alles schon. «Nein!», sagte der Meister, «Wenn du sitzt, dann stehst du schon. Wenn du stehst, dann gehst du schon. Wenn du gehst, bist du schon am Ziel.» Der Meister deutet darauf hin, dass wir mit unseren Gedanken und unseren Handlungen oft nicht am gleichen Ort – im Volksmund: nicht bei der Sache – sind. Auch die Feststellung "Wenn du an deinem Arbeitsplatz bist und an den Sandstrand denkst, dann bist du weder hier noch dort – wo bist du denn?" drückt aus, was der Zen-Meister seinem Schüler sagt. In einer schnelllebigen Multimediawelt sind wir diesem Risiko zunehmend ausgesetzt. Wenn das zu einervorherrschenden– um nicht zu sagen unsbeherrschenden – Alltagsdynamik wird, in der wir durch das Leben gehen, von der wir geradezugetrieben sind, in der wir auch andere antreiben, um gemeinsam – von äusseren Anreizen und inneren Nöten angeheizt – durch den Tag zu hetzen, dann kann man nur noch beten, dass es gut kommt. Solches Beten hat – das können wir vorwegnehmen – mit Spiritualitätnicht viel zu tun.

Wenn etwas hip klingt und dazu dienen kann, ein positives Selbstbild aufzubauen,neigen wir sehr rasch dazu, für uns zu beanspruchen, dass wir diesbereits tun oder sind – wie der Schüler das von sich vorschnell behauptet, ohne zu begreifen, was der Meister wirklich meint. In dem Masse, wie wirmit unseren Gedanken bei etwas anderem sind als bei dem, was wir gerade tun, wer wir wirklich sind, was um uns herum und in der Welt tatsächlich geschieht, sind wir nicht wirklich präsent. So ist es schwierig, empathisch auf Menschen einzugehen oderangemessen auf Situationen zu reagieren. Echte Präsenz istweit mehr als physische Anwesenheit.

Wie können wir diese hohe Kunst des Präsentseins erfahren? Bei allen äusserlichen Unterschieden in ihrenÜbungen und ihrer Semantik, ist es wohl das, was viele spirituelle Traditionen, die über Jahrhunderte entwickelt und kultiviert wurden, gemeinsam verfolgen: Die ultimative Erfahrung des Hier und Jetzt, eine erweiterte Wahrnehmung der Existenz, ein höheres Bewusstsein, Fähigkeiten, die eine ganzheitlichere, erfüllendere Lebenserfahrung fördern – ein gutes Leben schlechthin.

Dabei geht es nicht um die Frage, ob die eine oder andere Tradition oder Übung die bessere, schlechtere, richtige oder falsche ist. Es geht vor allem darum, eine Lehre und Praxissowie eine:n Lehrer:in zu finden, die einem zusagt, ja mehr noch, in die man zu vertrauen bereit ist, um einzutauchen und regelmässig zu praktizieren. Der Zen, zum Beispiel,lädt dazu ein, die Qualitäten, die man im Zendo (Meditationsraum),übt (Öffnung der Sinne, Klärung der Gedanken, Nicht Anhaften, Integration aller Lebenskräfte, wertschätzende Haltung gegenüber allem Leben u. ä.), im Alltag bei jeder Art von Aktivität zu kultivieren – ob bei der Arbeit oder bei Freizeitaktivitäten, ob beim Essen oder beim Abwaschen, ob vor dem Computer oder an der Werkbank, ob auf dem Spaziergang oder in der zwischenmenschlichen Kommunikation.

Im Gegensatz zu – allzu – menschlichen Sehnsüchtenund entsprechenden Angeboten, die diese gerne bedienen, geht es bei einer spirituellen Praxis nicht darum, dass man sie mal erlebt hat oder sie für eine bestimmte Zeit praktiziert, um ein Ziel zu erreichen, einen Abschluss zu erlangen oder etwas Bestimmtes zu sein – um sich dann wieder anderen Dingen zuzuwenden. Das Sein ist das Ziel schlechthin, um das Leben aus dem Moment heraus gesund, kreativ und würdig zu gestalten. Dass das kultiviert werden muss, scheint auf den ersten Blick fast banal. Aber der Zugang zu unseren inneren Ressourcen, die Schärfung unserer Wahrnehmungsfähigkeit, die Entwicklung unserer Intuition, der Aufbau von Vertrauen in das Leben, in uns selbst und andere, die Überzeugung, jederzeit am richtigen Ort zu sein und genau den Herausforderungen und Menschen zu begegnen, die uns helfen, unsere Einzigartigkeit zu entfalten und gleichzeitig einen Beitrag an die Gesellschaft zu leisten, dieses Potenzial ist zwar in uns angelegt, muss aber erschlossen werden. Achtsamkeitspraktiken können uns dabei helfen.Die Angebote in unserer geschäftigen, sensationslustigen und konsumorientierten Welt sind verführerisch. Sich nicht zu sehr davon ablenken zu lassen, sondern den eigenen Weg zu gehen, mussgeübt werden. Wenn wir etwas erreichen wollen, kann es hilfreich sein, Vorbilder zu haben, an denen man sich orientieren kann.Ein allfälliger Wunsch, Idolen nachzujagen, um irgendwann so zu werden wie sie, birgt das Risiko, am eigenen Leben vorbeizuleben. Den feinen Unterschied erkennen zu können, könnte man durchaus als spirituelle Fähigkeit bezeichnen.

Bei mir Zuhause steht auf dem Kalenderblatt des laufenden Monats: "Liebe dich selbst so sehr, dass du nicht den Wunsch verspürst, ein anderer zu sein". Ich interpretiere das als eine zutiefst spirituelle Empfehlung, die sich auch noch ausweiten liesse: Liebe den Ort, an dem du bist, so sehr, dass du nicht den Wunsch verspürst, woanders zu sein. Liebe das, was dutust (oder tun solltest), so sehr, dass du nicht den Wunsch verspürst, etwas anderes zu tun. Liebe die Menschen, mit denen du es zu tun hast, so sehr, dass du nicht den Wunsch verspürst, sie wären anders. Liebe dein Leben, wie es ist, so sehr, dass du nicht den Wunsch verspürst, ein anderes zu haben.

Das heisst nicht, sich passiv mit allem abzufinden, wie es ist. Es bedeutet vielmehr, die Wirklichkeit so anzunehmen, wie sie ist. Sich weder an die Vergangenheit zu klammern noch Zukunftsträumen nachzuhängen, sondern in jedem Augenblick in jeder Situation das zu tun, was getan werden kann oder muss, um anstehende Aufgaben zu erfüllen, fruchtbareBeziehungen zu pflegen und die Geschicke in gute Bahnen zu lenken. Vielleicht kann Spiritualität auch in ganz einfachen Erkenntnissen zum Ausdruck kommen, wie: Das Leben ist nicht perfekt, dennoch kann es sich perfekt anfühlen. Es gibt viel zu tun, zu erkunden, zu lernen, zu verbessern, zu verschönern. Jeder Sonnenaufgang ein kleines Wunder. Jeder Tag voller Überraschungen. Jede Aufgabe einkreativer Akt. Jede Begegnung eine kosmische Inszenierung. Jeder Herzschlag ein kleines Lebenszeichen. Jeder Atemzug einAustausch mit dem Universum. So könnte es ewig weitergehen!

Hans-Ueli Schlumpf, im Februar 2022

 

Spiritualität Bedeutung: Horizontale und vertikale Verbundenheit                                  einfach ganz leben

Das Erlebnis von Verbundenheit als Kernmerkmal von Spiritualität wurde von Ulrich Ott genauer untersucht. »Horizontale« Verbundenheit bezieht sich auf die soziale Mitwelt, auf die Natur und den Kosmos. »Vertikale« Verbundenheit bezieht sich auf ein höheres Wesen, das häufig als »Gott« bezeichnet wird. Es kann sich aber auch auf das eigene Selbst beziehen. Spirituelle Erfahrungen können auch passieren, während wir Sex haben. Das macht die Liebe auch so liebenswert: Die Verschmelzung mit dem Menschen, dem wir unser Herz geschenkt haben. 

Du siehst, Spiritualität ist also viel menschlicher, als du bislang angenommen hast. Um mehr von diesen Erfahrungen zu erleben, empfiehlt es sich, eine Meditationspraxis anzufangen. Erfahrungen der Verbundenheit im Alltag sind eher Glückssache und vergleichbar mit einem 6er im Lotto. Wer eine regelmäßige Meditationspraxis ausübt, hat hingegen die Chance, Spiritualität im Alltag zu erleben.

Die 5 Dimensionen spiritueller Erfahrungen

Welche Arten von spirituellen Erlebnissen gibt es und was bringt Spiritualität überhaupt? Spirituelle Erfahrungen können sich in ihrer Tiefe und Dauer unterscheiden. So kann ein Moment der innigen Einheit mit einem Menschen, den du liebst, ein wunderbarer Vorgeschmack von dem sein, was Menschen erfahren, die über einen langen Zeitraum meditieren. 

Der Psychotherapeut und Meditationsforscher Harald Piron hat in mehreren Studien untersucht, was Meditierende erleben. Er hat festgestellt, dass sich ihr Bewusstsein von Spiritualität in unterschiedlichen Dimensionen von Tiefe anordnen lässt. Je tiefer die Dimension, desto losgelöster ist das Gefühl von der Identifikation mit dem Ich und von Raum und Zeit. 

  • Hindernisse: innere Unruhe, Schläfrigkeit, Langeweile, Motivations- und Konzentrationsschwierigkeiten
     
  • Entspannung: Wohlbefinden, ruhige Atmung, wachsende Geduld und innere Ruhe
     
  • Konzentration: achtsames Beobachten innerer Vorgänge ohne Anhaften, Erfahrung einer inneren Mitte oder eines Energiefeldes, Einsichten und Erkenntnisse, Gleichmut und innerer Frieden
     
  • Essenzielle Qualitäten: Klarheit, Liebe, Hingabe, Verbundenheit, Demut, Gnade, Dankbarkeit und Freude
     
  • Nicht-Dualität: kognitive Aktivitäten kommen vollständig zur Ruhe, Leerheit und Grenzenlosigkeit, Einssein mit allem, Transzendenz von Subjekt und Objekt

    Diese fünf Dimensionen machen deutlich, dass es sich lohnt, eine spirituelle Praxis zu beginnen. Hast du die Hindernisse einmal überwunden, wird es so richtig schön und interessant. Leider gibt es einen Wermutstropfen. Der heißt: dranbleiben. Es braucht regelmäßige Praxis, bis sich die verschiedenen Dimensionen in der Tiefe erfahren lassen. Aber es lohnt sich. 

 

Spiritualität lernen: Verschiedene Meditationstechniken

Um diese verschiedenen Arten von Spiritualität zu erfahren, braucht es eine Praxis, die zu dir passt. Es verhält sich hier fast so wie mit dem Kauf eines Autos: Auto ist nicht gleich Auto. Und Meditation ist nicht gleich Meditation. Hier findest du verschiedene Techniken, die dir einen Eindruck vermitteln, wie unterschiedlich Meditation sein kann. 

  • Meditationen mit Bewegung: Yoga, meditative Bewegungssequenzen, Gehmeditation
     
  • Körperzentrierte Meditation: BodyScan, Konzentration auf Chakren
     
  • Achtsames Beobachten: Sitzen oder Liegen in Stille, Beobachten der Gefühle und Gedanken
     
  • Kontemplation: Beschäftigung mit einer existenziellen Frage wie: „Wer bin ich?“ oder einem Paradoxon wie: „Wie klingt das Klatschen einer Hand?“
     
  • Visuelle Konzentration: Konzentration auf ein äußeres Objekt, wie zum Beispiel die Flamme einer Kerze oder eine innere Visualisierung
     
  • Affektzentrierte Meditation: Kultivieren von Mitgefühl, liebender Güte und anderen positiven Qualitäten
     
  • Mantra-Meditation: Wiederholen von Mantras

Vielleicht hilft dir auch dieser Selbsttest: Welche Meditationsart passt zu mir?