Montag, 20. September 2021

 

Philrunde 1.10.2021

Corona-Krise: Zeit der Möglichkeiten                                   aus: ethik-heute.org

edu-lauton/unplash
Corona-Krise: Zeit der Möglichkeiten

Gedanken von Margrit Irgang

Die Corona-Pandemie hat uns aus dem normalen Leben gerissen. Wir sehnen uns nach „Normalität“ und Sicherheit. Doch unsere Welt ist eine andere geworden, ist die Schriftstellerin Margrit Irgang überzeugt. Sie rät, die Unsicherheit willkommen zu heißen, denn nur so können wir neue Möglichkeiten für uns und die Gesellschaft entdecken.

Als wir in den ersten Lockdown geschickt wurden, sprach die Bundeskanzlerin von einer „neuen Normalität“, die uns in der Zukunft erwarten würde. Aber die Zukunft trödelt herum und will sich nicht einstellen.

Jens Spahn hält sich deshalb lieber an die Vergangenheit und hofft auf eine „Rückkehr zur Normalität“ im Sommer dieses Jahres. Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller glaubt dagegen „vorerst nicht“ an eine Rückkehr zur Normalität, während der Chef der Stiko, der Ständigen Impfkommission, mit einer Rückkehr zur Normalität Ende des Jahres 2021 rechnet, wenn die Herdenimmunität erreicht sein soll.

Normal nennen wir das, was wir gewohnt sind, was uns vertraut ist. Die derzeitige Beschwörung der Normalität soll die Illusion von Sicherheit erzeugen in einer Zeit, in der nichts mehr sicher ist. Ich finde es aufschlussreich, dass in der Sprache der Justiz früher das Wort „sicher“ im Sinn von „frei von Schuld, Pflichten, Strafe“ gebraucht wurde. Ganz tief unter unserem Wunsch nach Sicherheit liegt die Angst vor dem Unbekannten, dessen Gesetze und Verhaltensregeln wir nicht kennen.

Niemand sagt deutlich, was im Grunde alle wissen, aber keiner zugeben will: dass es eine Rückkehr zur Normalität nicht geben wird, weil unsere Welt nicht mehr die ist, die sie vor der Pandemie war. Man will ja im Herbst wiedergewählt werden, und eine verunsicherte Bevölkerung ist unberechenbar.

Und so entgeht den Volksvertretern, dass ihr Volk in weiten Teilen die veränderte Lage längst begriffen hat. In welche „Normalität“ sollen die Besitzer kleiner Läden, die Konkurs anmelden müssen, zurückkehren? Oder die Menschen, denen ein naher Angehöriger an Covid-19 verstorben ist? Oder die Jugendlichen, die keinen Ausbildungsplatz finden?

Alle, die eine Zukunft beschwören, die nichts anderes sein soll als eine Rückkehr ins Gewohnte, betrügen die Menschen um die große Chance, die Corona uns bietet: die Unsicherheit willkommen zu heißen mit all ihren Möglichkeiten.

Corona schickt uns auf eine Reise in ein fremdes Land

Der Quantenphysiker Hans-Peter Dürr wies darauf hin, dass Unsicherheit geradezu eine Vorbedingung für Kreativität sei, weil sie uns Handlungsfreiheit eröffne: „Unsicherheit bewirkt Sensibilisierung. Und ein lebendiges Wesen ist ein hochsensibilisiertes System. Wenn wir im stabilen Grundzustand sind, passiert uns nichts, hier sind wir sicher, aber das Geistige könnte sich in uns kein Gehör mehr verschaffen, die Welt der Ahnungen und Gedanken wäre verschüttet.“

Corona schickt uns auf eine Reise in ein fremdes Land, und eine solche Reise erfordert von uns das Erlernen ganz neuer Fähigkeiten. Ich bin einmal alleine durch Harlem und die Bowery in New York gestreift, weil sich meine amerikanischen Freunde weigerten, mich in diese gefährlichen Viertel zu begleiten.

Ich ging mit weit offenen Sinnen, hellwach und jede Einzelheit registrierend. In Hauseingängen lagen Kleiderbündel, die ich für Abfall hielt, bis sie sich zu bewegen begannen und aufrichteten: Waren es Obdachlose, Junkies?

Drei junge Männer folgten mir im immer gleichen Abstand, ohne näher zu kommen. War es Neugier oder Überwachung? Ich konnte das alles nicht auf Grund vergangener Erfahrungen beurteilen. Ich brauchte eine andere Instanz, um die möglichen Gefahren zu orten: meine Intuition und den Instinkt, der seit den Urzeiten der Menschheit in meinen Genen schlummert und jetzt geweckt wurde.

Was wir zu wissen glauben, nehmen wir kaum mehr wahr

Wir wissen nicht, wo wir uns – jede und jeder für sich und wir als Gesellschaft – in einem Jahr befinden werden. Ist das wirklich so furchterregend? Wenn wir etwas zu wissen glauben, nehmen wir es nicht mehr wahr. Uns entgehen die feinen Nuancen unseres Partners, den wir seit Jahrzehnten „kennen“, weil wir von ihm keine Überraschungen mehr erwarten. Wir sehen an unserem langjährigen Wohnort die Veränderungen der Natur nicht mehr.

Wir wissen noch nicht viel über das Virus. Die Virologen sind dabei, mehr darüber herauszufinden, und das ist gut und wichtig. Aber wir könnten unser Nicht-Wissen jetzt, in diesem Moment, für größere Lebendigkeit nutzen. Anstatt auf die Rückkehr des Gewohnten zu warten, könnten wir uns den Energien des Lebens anvertrauen.

Eine der grundlegenden Lehren des Buddha ist die von der unaufhörlichen Veränderung alles Seienden. Und auch die Bibel weiß, dass es für alles eine Zeit gibt, für das Säen und Ernten, für das Leben und Sterben.

Irgendwann wird es eine Zeit des Wissens geben, in der wir das Virus verstehen und vielleicht sogar eindämmen können. Jetzt jedoch ist die Zeit des Nicht-Wissens und der Entdeckung der Möglichkeiten. Die größte dieser Möglichkeiten sind wir selbst: unsere Ideen, unsere Kreativität, unsere Herzenswärme.

Wir haben das „hochsensibilisierte System“, das jeder von uns ist, vielleicht noch gar nicht wirklich kennengelernt. Ein Leben im Gewohnten und Altvertrauten schläfert subtile Kräfte nämlich ein. Aber jetzt könnten sie aufwachen und in uns die hellwache, kritische Aufmerksamkeit wecken, die wir mehr denn je brauchen.

Noch hat sich das Lebendige nicht zu einer „neuen Normalität“ verfestigt, und wir haben uns noch nicht in einer neuen scheinbaren Sicherheit eingerichtet. Noch ist alles im Fluss. Es wäre zu schade, wenn wir diese Zeit versäumen würden.

Lesen Sie einen weiteren Artikel der Autorin: Wir alle sind Teil des kollektiven Immunsystems

Foto: privat

Margrit Irgang ist Schriftstellerin und Dichterin. Sie erhielt für ihre Erzählungen und Gedichte etliche Literaturpreise. Seit 1984 praktiziert sie Zen, seit 1992 bei Thich Nhât Hanh. Seit über 20 Jahren gibt sie Meditations-Retreats. Auf ihrem Blog www.margrit-irgang.blogspot.de erkundet sie „die Poesie des Augenblicks“.

 

Wir alle sind Teil des kollektiven Immunsystems


Wir alle sind Teil des kollektiven Immunsystems

Gedanken zu den Corona-Regeln

Margrit Irgang, Schriftstellerin und Meditationslehrerin, ist besorgt, dass Menschen in ihrem Umfeld die Corona-Regeln ablehnen. Sie kritisiert ein falsches Verständnis von Freiheit. Da wir alle miteinander verbunden sind, spiele es eine große Rolle, wie ein einzelner Mensch sich verhält.

Ich bin ratlos und traurig. In meinem Umkreis gibt es zunehmend mehr Menschen, die sich weigern, Masken zu tragen. Sie sagen, sie fühlten sich durch die Maßnahmen der Politik zur Eindämmung der Pandemie in ihrer Freiheit eingeschränkt. Sie sähen, sagen sie, unsere Grundrechte in Gefahr. Auf Demonstrationen werden Schilder hochgehalten, auf denen zum Beispiel steht “Für unsere Freiheit gegen Merkels DDR”.

Nun haben wir es beim Corona-Virus mit einer abstrakten und unsichtbaren Gefahr zu tun, von der wir alle nicht mit Sicherheit sagen können, wie groß sie ist oder werden wird. Und einige der Regierungsbeschlüsse sind durchaus fragwürdig – aus meiner Sicht vor allem die Milliarden, die jetzt zur Ankurbelung eines schon vorher unsinnigen Konsums ausgegeben werden, während die Künstler und die Kultur schlichtweg vergessen werden.

Aber die Argumentation der Maskenverweigerer funktioniert nur, weil sie gleichzeitig die Gefährlichkeit des Virus und die Kompetenz der Fachleute anzweifeln. So bleibt ihr Freiheitsbegriff unangetastet und sie müssen sich nicht der Frage stellen, ob hier vielleicht Freiheit mit Egozentrik verwechselt wird.

„Dein Körper gehört nicht dir“

Meine Mutter und mein Stiefvater waren starke Raucher. Nach dem Krieg lebten wir in einem Zimmer. Nein, das war keine Einzimmer-Wohnung, nur ein Zimmer für absolut alles, was man so tut, wenn man zu Hause ist. Ich wuchs auf inmitten blauer Rauchschwaden; kein Mensch kam damals auf die Idee, dass hier die Gesundheit eines Kindes geschädigt wurde.

Die später allgegenwärtige Marlboro-Werbung mit dem Cowboy machte mir klar, worum es dabei ging: “Der Geschmack der Freiheit” war nach den Entbehrungen des Krieges einfach zu verlockend.

In meinem ersten Studienjahr beim vietnamesischen Meditationslehrer und Friedensaktivisten Thich Nhât Hanh sagte er einen Satz, der bei vielen Zuhörern großen Widerstand auslöste: “Dein Körper gehört nicht dir.”

Da alles mit allem verbunden ist und Grenzen zwischen uns und der Natur nicht existieren, ist es nicht egal, wie ich mit meinem Körper umgehe. Wie ich ihn ernähre, pflege, welchen Risiken ich ihn aussetze. Es geht nicht nur um mich, es geht immer um das Ganze.

„Wir alle sind Teil der zweiten Welle“

Wenn man einen Gewährsmann zum Thema Freiheit befragen möchte, sollte man vielleicht Nelson Mandela wählen. Dieser große Friedens- und Freiheitspolitiker hat immer betont, dass er sich im Gefängnis die innere Freiheit bewahrt hat. Und auch dies hat er gesagt: “Sich ernsthaft um andere zu sorgen, sowohl im privaten wie im öffentlichen Leben, würde uns der Welt, nach der wir uns sehnen, sehr viel näher bringen.”

Thich Nhât Hanh wiederum hat einst im Hochsicherheitstrakt eines Gefängnisses in Maryland ein Retreat gegeben mit dem Titel “Frei sein, wo immer du bist”. Und er wurde nie müde, uns daran zu erinnern: “Freisein ist unsere Praxis”. Denn Freiheit ist nicht “dort draußen”, sie ist kein Zustand, der uns gewährt und wieder genommen werden kann. Sie ist ein Geisteszustand.

Isabella Eckerle, die Leiterin des Zentrums für Virenerkrankungen an der Universität Genf, sagt, warum wir es jetzt nur gemeinsam schaffen können: “Wir alle sind ein Teil dieser zweiten Welle. Denn das Virus braucht immer einen Wirt, um zu überleben und sich zu vermehren. Es ist auf eine kontinuierliche Weiterübertragung angewiesen. Nur wenn es immer wieder von einem Menschen zum anderen überspringt, bleiben Infektionsketten aufrechterhalten. Sobald ein Infizierter in der hochinfektiösen Phase niemand anderem nahekommt, bricht die Infektionskette ab und das Virus verschwindet in dieser Sackgasse.”

Und immer noch reiten die Cowboys ohne Masken über die Plätze der Stadt auf der Suche nach dem Geschmack der Freiheit.

„Wir sind wichtig“

Noch etwas ist hier wichtig. In Neuseeland ordnete Premierministerin Jacinda Ardern im Frühjahr einen nahezu kompletten Lockdown an; die Bürgerinnen und Bürger sahen die Notwendigkeit ein und setzten alle Anordnungen ohne Widerspruch um. In Frankreich gab es weit drastischere Einschränkungen als in Deutschland, jetzt folgen Wales und Belgien, um nur einige zu nennen. Ich höre wenig von Demonstrationen dort gegen die von der Politik verhängten Maßnahmen.

Aber in Deutschland ist die Vergangenheit noch längst nicht vergangen. Da gibt es einerseits die Rechtspopulisten, die das Virus für ihre Zwecke missbrauchen. Da ist bei anderen, sehr viel klügeren Menschen das Misstrauen gegen Anordnungen “von oben” und die Sorge darum, die mühsam errungene Demokratie dauerhaft zu verspielen.

Die Sorge ist gut. Sie ist wichtig. Aber wir müssen lernen, jeden Einzelfall genau zu betrachten und zu differenzieren. Wenn wir einfach nur “dagegen” sind, reagieren wir aus dem Urgrund des kollektiven Traumas heraus, das in Deutschland lebendiger ist, als die meisten es wahrhaben wollen. Und blinde Reaktion ist nicht dasselbe wie kreative Antwort.

Wir sind Teil des kollektiven Traumas und Teil des kollektiven Immunsystems. Ich weiß, dass es nicht leicht ist, beides gleichzeitig zu balancieren. Aber nur Mut, es wird gehen. Wie wir in den nächsten Monaten unser persönliches Leben leben, ist entscheidend. Sorgen wir uns ernsthaft um andere? Das würde viel ausmachen.

Wir sind wichtig, jede und jeder von uns. Das ist doch mal eine gute Botschaft.


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